In Memoriam Akinobu Kishi (1949-2012)

6 Feb, 2024
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Wo war ich denn da hingeraten? Um mich herum ein Heulen und Schreien, Leute rollten wieTeppiche über den Boden, um sich schlagend, sich ausschüttelnd, dazu ein Höllenlärm – mit anderen Worten: reines Chaos! War ich vielleicht doch zu naiv gewesen, als ich mich im Frühjahr 1983, gerade noch Anfänger im Shiatsu, zu einem Sei-Ki- Workshop mit Kishi anmeldete? Es schwirrten wirre Gerüchte und Mythen in der Szene über diesen Japaner umher, der ja vor Jahren immerhin von Masunaga selbst als Botschafter für Shiatsu in den Westen geschickt worden war. Da sollte dieser Sei-Ki-Kurs für meinen Shiatsu-Weg doch nur eine Bereicherung sein! – Achtung Spoiler: Ja, große Bereicherung! Bevor aber der gemeinsame Weg wirklich begann, brauchte ich noch sieben Jahre, um die Erlebnisse, Eindrücke und Ideen aus diesem Initialworkshop zu verdauen.


Kishi war gerade mal Einundzwanzig, als er 1971 nach Paris gekommen war, um im Auftrag Masunagas Shiatsu in die europäische Welt zu bringen. Kishi sprach da kaum English und null Französisch, hatte an der Namikoshi Shiatsu Schule die Ausbildung abgeschlossen und wurde bald darauf Masunagas persönlicher Assistent. Der Meister hatte das Talent erkannt. Nach Kishis Rückkehr blieben die beiden gute zehn Jahre kollegial verbunden, erforschten Shiatsu, und reisten gemeinsam als Mitglieder von japanischen Handelsmissionen durch die asiatische Welt, um die Methode vorzustellen: großer Saal mit vielen Zuschauern, Bühne, Masunaga mit Mikrophon, Kishi simultan demonstrierend was der Meister erklärte. Davon gibt es noch einige vergilbte Schwarz-Weiß-Fotos.

Das verstörende Erlebnis in jenem besagten Workshop – diese körperlichen wie auch psychisch-emotionalen Entladungen – kennt man in Japan unter dem Begriff Katsugen; und auch in der westlichen Psychologie ist ein kathartisches Abreagieren von innerer Anspannung durchaus bekannt. Katsugen kann man beschreiben als spontane Bewegung oder Bewegung aus dem Inneren. Dazu gibt es vorbereitende Übungen. Wenn der Kopf die Kontrolle aufgibt, wenn Blockaden sich lösen, kann die ursprüngliche Lebenskraft sich ausdrücken. Dies ist Loslassen und Ausscheiden von angesammeltem Müll auf jeder Ebene, eine Befreiung. Und es ist das Vertrauen auf die Weisheit des Körpers, sich dadurch selbst regulieren und heilen zu können – also eine Überholung und Erneuerung des Energiesystems von innen heraus.

Kishi im Jahr 2006 (C) Copyright und mit freundlicher Genehmigung von K. Metzner

Und darum ging es Kishi, als er seine Methode entwickelte: den freien Ki-Fluss. Anfangs nannte er diese noch Shinto-Shiatsu, also namentlich eine Form des Shiatsu, angebunden an die schamanistischen Inhalte der japanischen Ur-Tradition. Ihm lag die Hara-Kultur der alten Künste am Herzen – Shodo, Aikido, Chado, Ikebana – um nur einige zu nennen. Dies fasste er zu einer Ki-Culture mit speziellen Übungen zur Ki-Entwicklung zusammen. Und mit der Zeit hatte er seine persönliche Weise der Behandlung – Sei-Ki-Soho – gefunden, sowie eine ganze Reihe von Übungen entwickelt – speziellen Reinigungsübungen – um bei jedem Übenden das Ki zum freien Fließen anzuregen. Um diese Wurzeln auch seinen Schülern nahe zu bringen – und dies war Kishi sehr wichtig – organisierte er regelmäßig „Japan Sei-Ki- Workshops, bei denen sich die Teilnehmer shintoistischen Reinigungsritualen unterzogen, in der Kunst der Kalligrafie übten, die Einzelheiten der Teezeremonie kennenlernten – osaki ni! – oder über die Geheimnisse japanischer Holzverbindungen staunten, wie sie beim Tempelbau noch heute in Japan genutzt werden.

Fließende Lebensenergie – darum geht es im Sei-Ki. Und „frei fließendes Ki“ könnte auch die direkte wörtliche Übersetzung des Begriffs Sei-Ki sein. Andere Übersetzungen lauten life harmony movement oder Energie in Harmonie, Führung der Lebensenergei. Als man Kishi einmal nach seiner persönlichen Definition von Sei-Ki fragte bzw. was für ihn Sei-Ki bedeute, kam die Antwort: „leerer Raum, blauer Himmel“. Und ein andermal: „beobachten wie Wolken über den Himmel ziehen  . . . “ Hmm, da staunten wir nicht schlecht und versuchten, treue disciples die wir waren, die message des Meisters zu entschlüsseln – und er hatte dann erstmal seine Ruhe. Wenn er solche Weisheiten von sich gab, durfte man nicht den Schalk in seinen Augen übersehen. Und ja, er war ein Schalk und ein charmanter Schelm.

Akinobu und Kyoko Kishi im Jahr 2006 (C) Copyright und mit freundlicher
Genehmigung von K. Metzner

Tatsächlich machte Kishi sich immer wieder lustig über die Fragen von uns Shiatsu-Übenden. Deutsch war ihm nicht wirklich geläufig, die Bedeutung von „Holzkopf“ aber kannte er gut. Und so ärgerte er uns gerne mit diesem Wort, indem er uns vorhielt, sich mit Techniken und Theorien einzuengen, anstatt Raum zu schaffen; Raum  für die unmittelbare Wahrnehmung; Raum, damit Energie frei fließen kann; Raum, damit man sich selbst spüren und weiterentwickeln kann. Und er tat immer so, als hätte er diese Entwicklung nie durchlaufen. 20 Jahre später aber war er dann milde mit uns, denn – natürlich! – da hatte eine Entwicklung stattgefunden und es gab eine Annäherung. Wir konnten uns auf Augenhöhe mit ihm austauschen, diskutieren und uns behandeln. Und weil ja sehr viele der ShiatsulehrerInnen in Deutschland und Europa über die Jahre an Workshops mit Kishi teilgenommen haben, ist es nicht von der Hand zu weisen, dass Kishi großen Einfluss auf die europäische Shiatsu-Szene genommen hat, wenn auch oft unbemerkt, möglicherweise sogar ungewollt und oft auch nicht anerkannt,

Das Wort „Holzkopf“ hatte Kishi selbst für Masunaga übrig. In seinem Buch  „Life In Resonance“ kann man nachlesen, wie er Masunaga einerseits bewunderte und verehrte, und wie er seinen Sensei als mutig, innovativ, charismatisch und inspirierend erlebt hat; wie Masunaga auf der anderen Seite jedoch besessen war von seinen Zielen, besonders in der Entwicklung einer wissenschaftlich anerkannten Shiatsu-Theorie; und wie schließlich Masunaga mehr und mehr eingeschlossen war in seinen Ideen, er sich weiter entfremdete und wie man am Ende keinen Zugang mehr zu ihm hatte. Zu viel Form, Festlegung und Theorie – das ermöglichte keinen Raum mehr für eine Weiterentwicklung. Das Fortschreiten auf diesem Weg hätte auch Kishi in eine Sackgasse geführt. Dies muss  wohl für ihn der Anlass gewesen sein, den Weg im Shiatsu, wie ihn Masunaga maßgeblich mitgeprägt hatte, grundsätzlich zu hinterfragen und ihn schließlich abzubrechen. In seinem Buch sind viele lesenswerte und interessante Details zu dieser Zeit und den damaligen Entwicklungen zu finden.

Kishi im Jahr 2011 (C) Copyright und mit freundlicher Genehmigung von K. Metzner

Ein gab noch zwei weitere Wörter, die Kishi auf deutsch beherrschte: „Zusammenarbeit“ und „gemütlich“. Fast ist man geneigt zu sagen, das klingt nach gemütlicher Zusammenarbeit. Und so hat er, der Schelm, seine Behandlungen oft auch beschrieben. Die Zusammenarbeit nannte er hin und wieder auch Osmose, ein Zusammenfließen und Durchdringen. Und so war seine Berührung, die in einem herkömmlichen Sinn gar keine Berührung, geschweige denn „Fingerdruck“ war, ein unmissverständlicher, direkter und klarer, wenn auch „gemütlicher“ Hauch, der mit dem exakten Timing an der genau richtigen Stelle in die Tiefe wirkte mit der Aufforderung: mach Du jetzt, meinen Teil habe ich getan – bevor er sich zu einer neuen Stelle hingezogen fühlte! Oft nahm er die Hände auch ganz weg, immer höchst gegenwärtig in der Wahrnehmung, in der Beobachtung des Atems, oder anderer Regungen der Klientin, im Sinn von: ich habe Hinweise gegeben, Du bist dran. Dann saß er wieder, wie eine Katze auf der Lauer, wartete, bis die Maus sich zeigte – und seine Hand war da. Der Begriff „tief berührt“ bekam mit Kishi eine neue Bedeutung.

Ein Sinnbild, das Kishi des Öfteren benutzte, war das von einer Landkarte. Die Karte zeigt zwar einen Weg an, gehen aber muss man ihn selbst, und der Straßenzustand ist mit jedem Meter neu zu er-fahren. So auch bei Sei-Ki: Vorlagen, Vorgaben, Form und Konzepte begrenzen; unmittelbares Sein steht im Vordergrund, formalisierte Berührung, Behandlungstechniken, Theorien verlieren ihre Wichtigkeit. Jede Behandlung ist neu, der Ausgangspunkt ist jedes Mal der leere Geist, Mushin. Im Vordergrund steht die innere Ausrichtung, absolute Wachheit, Präsenz, ein Gefühl für Ganzheit, Zeuge sein, Verbindung in Resonanz. Der Körper selbst ist die Landkarte und zeigt an, was gebraucht wird, wo es lang geht, und wo der nächste Stopp ist. Es gibt keine Diagnose, keine Beurteilung oder Feststellung, es gibt keine sich daraus ergebende Behandlung; auch kein gesund oder krank, gut oder schlecht, kyo oder jitsu. Der Mensch in seiner Ganzheit steht im Mittelpunkt und darf im wörtlichen Sinn zu sich kommen.

Das alles ist vor dem Hintergrund des Shinto zu sehen, dessen Einfachheit, Ursprünglichkleit und Naturverbundenheit Kishis Arbeit maßgeblich mitbestimmte. Und so kam er schon in frühen Jahren, später auch zusammen mit seiner Frau Kyoko, immer wieder zur Einkehr an einen kleinen, eher unbekannten Shinto-Schrein in den Bergen Ooeyamas zurück. In der Großstadt aber, wo inzwischen auch die Japaner in globaler Alltagskluft zum Einkaufen gehen, stach Kishi mit indigofarbenem und handgewebtem Hakama, blütenweißem Gi und auf hochgelegten Holzsandalen würdevoll aus der Menge hervor. Ja, auch das Extravagante lag ihm. War er in Europa, trug er schicke Designerkleidung, liebte die Gourmetküche, schätzte guten Wein und nach dem Dessert gerne auch einen feinen Cognac. In seiner Münchner Zeit aber war Das Weiße Brauhaus im Tal seine Lieblingswirtschaft, wo er der Schneider-Weißen und einem deftigen bayrischen Mahl nicht abgeneigt war. Er war ein Genießer, ein Bonvivant und ein Lebenskünstler.

Kishi im Jahr 2006 (C) Copyright und mit freundlicher Genehmigung von K. Metzner

Die Kurstitel der letzten Jahre lauteten unter anderem „Es gibt nichts zu Tun“, „Die Kunst, den Raum leer zu lassen“ oder, ganz spannend, „Hand und Nicht-Hand“. Und so profitierten zahlreiche TeilnehmerInnen an Shiatsu-Ausbildungen von den Freiräumen, die Sei-Ki immer wieder neu zugänglich macht, um sich ganz und gar auf das Wesentliche unserer Kunst einzulassen: ehrliche, authentische Berührung im einfachen Sein. Und gerne darf es auch gemütlich sein! Wie wunderbar – danke, Kishi, für dieses Geschenk und diese Erinnerung!

Vor 12 Jahren, im Oktober 2012, ging Kishi von uns. Im Sommer davor, als er schon spürte, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, schrieb er an seine community:

Kishi does not dance any longer, cannot dance either

He does not meet and does not teach

He presents Seiki-Soho never again

He merely continues: innocence carried in a pleasant wind.

He will become a wind himself; gently, silently, caressing your cheek.

Welcome the wind; carry on anyhow and do not stay.

That is the alive way, this is nature.

Kishi san, wir vermissen Dich!


Autor

Klaus Metzner
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